Professor Friedrich Esmarch war von 1854 bis 1898 Direktor der Chirurgischen Klinik in Kiel. In dieser Zeit hat er mehr als 1.000 Zeichnungen zusammengetragen, die seine Patientinnen und Patienten zeigen. Einen Ausschnitt dieser „Klinischen Bildersammlung“ zeigt die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) in der Ausstellung „Vor aller Augen. Menschen in Prof. Esmarchs Klinischer Bildersammlung“. „Die Zeichnungen, die zum Teil aus der Hand Kieler Künstler stammen, geben einen lebendigen Einblick in die chirurgische Patientenversorgung des 19. Jahrhunderts. Die realistischen Krankheitsbilder und das Schicksal der Patientinnen und Patienten bewegen dabei auch heute noch“, sagte Professor Joachim Thiery, Dekan der Medizinischen Fakultät der CAU bei der feierlichen Ausstellungseröffnung am 20. Dezember. „Die Sammlung zeigt, dass für Esmarch die Ausbildung der Studenten am Patienten im Zentrum stand und die Universitätsmedizin den Schritt von einer theoretischen zu einer angewandten Wissenschaft vollzogen hatte“, so Thiery.
Anlass für die Ausstellung ist der bevorstehende 200. Geburtstag des berühmten Kieler Arztes am 9. Januar 2023. Außerdem ermöglichten die Medizinische Fakultät, das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) und die Brunswiker Stiftung den Ankauf 300 weiterer Zeichnungen, die nun zum Teil der Öffentlichkeit präsentiert werden. „Esmarchs Erbe erhellt den Blick auf die universitätsmedizinische Versorgung der einfachen Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auch schon damals weit über die nur funktionserhaltende Therapie hinausging“, betont Professor Jens Scholz, CEO des UKSH, „und, wir erhalten ein authentisches Zeugnis zur Didaktik der akademischen Lehre vor über 150 Jahren.“ CAU-Präsidentin Professorin Simone Fulda dankte den Förderern und den Organisatorinnen und Organisatoren der Ausstellung herzlich für ihr Engagement. Sie hob hervor: „Diese Ausstellungseröffnung, die das Schaffen des Kieler Chirurgen Friedrich von Esmarch in so beeindruckender Weise würdigt, verdeutlicht die wichtige Rolle der Museen und wissenschaftlichen Sammlungen der CAU für eine lebendige Erinnerungskultur in der Stadt Kiel.“
Der Mensch hinter der Krankheit
Anhand von 39 ausgewählten Zeichnungen geht die Ausstellung der Frage nach, was Kranksein für Menschen im 19. Jahrhundert bedeutete und wie es den Erkrankten in einer Universitätsklinik mit Forschungs- und Lehrbetrieb erging. Darüber hinaus befasst sich die Ausstellung mit dem Medium der Zeichnung im Vergleich zu anderen Möglichkeiten der Darstellung von Krankheit sowie mit der Frage wie Professor Esmarch seine umfangreiche Sammlung selbst genutzt hat. „Im Gegensatz zu einem medizinischen Lehrbuch zeigt die Bildersammlung keine idealisierten Krankheitsbilder, sondern reale Menschen mit ihren ganz individuellen Ausprägungen der Krankheit“, so Eva Fuhry, Leiterin der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung.
Die Zeichnungen bilden ein breites Spektrum an Erkrankungen ab. Die dargestellten, äußerlich sichtbaren Zeichen dieser Erkrankungen führen unmittelbar das damalige Ausmaß von psychischen und sozialen Folgen von Krankheit vor Augen: Durch Krankheit entstellte Menschen litten unter Stigmatisierung, wie sie beispielsweise in entmenschlichenden Krankheitsbezeichnungen wie „Hasenscharte“ oder „Wolfsrachen“ zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus bargen zeitweise oder dauerhafte Arbeitsunfähigkeit ein hohes Risiko für Verarmung. Die Ausstellung vermittelt aber auch einen Eindruck davon, wie Menschen im 19. Jahrhundert medizinisch versorgt wurden und wie die praktische Lehre in der Klinik ablief.
Viele Darstellungen sind durch handschriftliche Kommentare zur dargestellten Person und ihrer Krankengeschichte ergänzt. Über die Zeichner der Krankenbildnisse ist wenig bekannt. Neben ausgebildeten Künstlern, namentlich bekannt sind Johann Heinrich Wittmaack und Julius Fürst, haben vermutlich auch Assistenzärzte und Medizinstudenten Zeichnungen angefertigt.
Esmarchs Sammlung über Umwege wieder vereint
Der Nachkomme eines aus Kiel stammenden Chirurgen bot 2021 die Zeichnungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zum Kauf an. Präsident der Gesellschaft ist Professor Andreas Seekamp, der die Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am UKSH, Campus Kiel, leitet. Er legte das Angebot der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung vor. Fuhry erkannte, dass die angebotenen Zeichnungen zu bereits in der Sammlung vorliegenden Werken passten. Durch deren Ankauf konnte Esmarchs Klinische Bildersammlung weitgehend vervollständigt werden.
Sammlungsleiterin Eva Fuhry freut sich über die wertvolle und seltene Forschungsquelle: „Sie gibt spannende Einblicke in Esmarchs Wirken als Operateur und akademischer Lehrer. Die Ausstellung greift erste Ansätze auf, wie man diese historische Quelle auswerten könnte. Und natürlich beschreiben wir auch, wie die Klinische Bildersammlung zustande kam und stellen Überlegungen an, warum ein Klinikdirektor über vier Jahrzehnte hinweg, Patientinnen und Patienten zeichnen lässt.“
Die Sammlung war nach Esmarchs Tod von seiner Witwe an die früheren Assistenzärzte Ernst Kowalzig und August Bier verkauft worden. Über die Nachkommen Kowalzigs und die Familie von Biers Assistenten Carl Ritter kehrte sie in drei Konvoluten seit 1963 nach Kiel zurück. Bis 2021 verfügte das Museum über circa 700 Zeichnungen aus Esmarchs Sammlung. Jetzt sind es etwa 1.000. Diese kostbare und sehr seltene Sammlung wird in der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der CAU bewahrt und für ihre weitere wissenschaftliche Nutzung erschlossen.
Das Wichtigste in Kürze
"Vor aller Augen. Menschen in Prof. Esmarchs Klinischer Bildersammlung"
Eine Ausstellung der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Brunswiker Str. 2, 24105 Kiel
Ausstellungsdauer: bis 12.11.2023
Öffnungszeiten: Di - Fr: 10.00 – 16.00 Uhr, So: 12.00 – 16.00 Uhr (24. bis 31.12.22 geschlossen)
Eintritt: 3 Euro, ermäßigt 1 Euro, Kinder bis 12 Jahre frei
Weitere Infos: www.med-hist.uni-kiel.de/
Über die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung
Die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung wird getragen von der Medizinischen Fakultät der CAU. Das Museum ist in einem denkmalgeschützten Bibliotheksgebäude von Gropius und Schmieden untergebracht. Es zeigt auf etwa 500 qm Ausstellungsfläche spannende Einblicke in die Entwicklung der Patientenversorgung, der medizinischen Forschung und der Ausbildung von Ärzten in Schleswig-Holstein. In historischen Apothekeneinrichtungen können Besucher und Besucherinnen die Herstellung von Arzneimitteln erleben.
Wissenschaftlicher Kontakt
Eva Fuhry
Leitung der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung
Tel.: 0431 880-5721
medmuseum@med-hist.uni-kiel.de
Pressetext
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Presse, Kommunikation und Marketing, Eva Sittig, Text: Kerstin Nees
Telefon: (0431) 880-2104, presse@uv.uni-kiel.de
Pressebilder
Die Ausstellung als gemeinsames Projekt: (v.l.) Eva Fuhry, Leiterin der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung; Professor Andreas Seekamp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie; CAU-Präsidentin Professorin Simone Fulda; Professor Jens Scholz, CEO des UKSH und Professor Joachim Thiery, Dekan der Medizinischen Fakultät der CAU.
© Christina Kloodt
Bild in Originalgröße
„Im Gegensatz zu einem medizinischen Lehrbuch zeigt die Bildersammlung keine idealisierten Krankheitsbilder, sondern reale Menschen mit ihren ganz individuellen Ausprägungen der Krankheit“, so Eva Fuhry, Leiterin der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung.
© Christina Kloodt
Bild in OriginalgrößePortrait von Prof. Friedrich Esmarch, vermutlich um 1860
© Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung, Uni Kiel
Der fünfjährige Fritz Rörden aus Nieblum/Föhr, nach Operation einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Gezeichnet 1858 vom Künstler Johann Heinrich Wittmaack.
© Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung, Uni Kiel
Die 17-jährige Magd Christina Wörpel, 1869. Ansicht eines Tumors zu Unterrichtszwecken aus drei unterschiedlichen Perspektiven gezeichnet.
© Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung, Uni Kiel
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