Für die Erforschung angeborener Gendefekte und der daraus resultierenden Fehlbildungen und Störungen benötigen Forschende häufig viele Jahre, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Mithilfe der Einzelzell-Sequenzierung ist es dem Lübecker Genetiker Malte Spielmann, Professor für Humangenetik an der Universität zu Lübeck und Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Lübeck und Kiel, zusammen mit einem internationalen Forschungsteam gelungen, die Auswirkungen spezifischer Mutationen auf molekularer und zellulärer Ebene in einem einzigen Experiment mit mehr als 1.5 Millionen Zellen zu erfassen. Der so erstellte Zellkatalog umfasst Daten von Mutationen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung mit einer noch nie dagewesenen Auflösung. Die Studie wurde in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
Da genetisch bedingte Fehlbildungen oft während der früheren Schwangerschaft entstehen, können diese nicht an menschlichen Embryonen oder in Zellkulturen untersuchen werden. Hierfür wird in der Forschung häufig auf Mausmodelle zurückgegriffen. Durch die Entwicklung neuerer Technologien zur gezielten Veränderung des Erbguts, wie z.B. CRISPR/Cas9, können genetisch manipulierte Mäuse, sogenannte „Knockout“-Mäuse, viel schneller und mit höherer Genauigkeit erzeugt werden. Die heutigen Technologien zur Analyse und Charakterisierung embryonaler Fehlbildungen arbeiten jedoch mit einem sehr geringen Durchsatz, sind äußerst arbeitsintensiv und es dauert oft mehrere Jahre, um eine einzige Knockout-Maus zu untersuchen. Methoden mit der nötigen Empfindlichkeit und dem Durchsatz, der für die Untersuchung komplexer Organsysteme wie z.B. einem sich entwickelnden Gehirn erforderlich sind, fehlen bislang.
Ziel der neuen Studie war es daher, mit der sogenannten Einzelzell-RNA-Sequenzierung eine alternative Methode zur Untersuchung von embryonalen Fehlbildungen im Mausmodell zu etablieren. Das internationale Forschungsteam um Professor Malte Spielmann von der Universität zu Lübeck und dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein untersuchte im Rahmen der Studie in einem einzigen großen Experiment die Genaktivität, auch Genexpression genannt, von über 100 Maus-Embryonen mit 25 verschiedenen genetischen Veränderungen. Eine Studie in diesem Umfang hätte mit herkömmlichen Strategien unzählige Jahre gedauert. Der hieraus resultierende Einzelzell-Atlas der fetalen Genexpression ermöglicht die Erforschung und Identifizierung der verschiedenen Zelltypen, die für embryonale Fehlbildungen verantwortlich sind.
Prof. Spielmann vergleicht das Versprechen der Technologie mit der Wirkung des Hubble-Weltraumteleskops. „Einzelzellmethoden - man kann ihre Bedeutung für das Verständnis der Entwicklungsbiologie gar nicht hoch genug einschätzen", sagt er. „Sie geben uns wirklich ein Bild, das wir noch nie zuvor gesehen haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem neuen Ansatz auch kleinste zelluläre Veränderungen finden können, die bisher übersehen wurden, die uns helfen, die Entstehung von embryonalen Fehlbildungen besser zu verstehen und so mögliche Ziele für zukünftige Therapien zu identifizieren“.
Für die Analyse der Daten entwickelten die Autorinnen und Autoren neue Computeralgorithmen, die es erlauben, die Informationen über jede einzelne Zelle am Computer zu rekonstruieren. Es gelang ihnen nicht nur, die Zellen nach Typ und Untertyp zu gruppieren, sondern auch ihre Entwicklungswege zu verfolgen und minimale zelluläre Unterschiede und Veränderungen nachzuweisen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler identifizierten mit dieser Methode 77 Hauptzelltypen und etwa 650 Zellsubtypen. Ein weiterer großer Vorteil dieses neuen Ansatzes ist die deutlich verringerte Anzahl an Versuchstieren für diese Analyse, da lediglich ein einziges Experiment durchgeführt wurde und alle weiteren Auswertungen in silico, d.h. am Computer, erfolgten.
Die Studie wurde von Prof. Spielmann, der Zweitmitglied an der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ist, in enger Zusammenarbeit mit Prof. Jay Shendure von der University of Washington in Seattle und Prof. Junyue Cao von der Rockefeller University New Yorck geleitet. Neben Forschenden der Universität zu Lübeck und des UKSH haben weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik, der Universität Göttingen, der RWTH Aachen, des Lawrence Berkeley National Laboratory, der Charité Berlin und der Deutschen Mausklinik vom Helmholtz Zentrum München zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen.
Die Original-Veröffentlichung ist hier zu finden: https://www.nature.com/articles/s41586-023-06548-w
Pressetext: Dr. Anja Stähle, Referat Kommunikation, Universität zu Lübeck
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Institut für Humangenetik, Prof. Dr. Malte Spielmann
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Prof. Dr. Malte Spielmann, Professor für Humangenetik an der Universität zu Lübeck und Direktor des Instituts für Humangenetik des UKSH und der UzL.
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