Die Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität zu Lübeck bildet mit ihrem weit gefächerten Leistungsspektrum nicht nur die personalstärkste Abteilung des Universitätsklinikums, sondern sie engagiert sich auch in der Organisation und der Koordination der Funktionsbereiche der operativ tätigen Disziplinen.
Zugleich gilt die Anästhesiologie aber auch noch als ein relativ "junges" Fachgebiet.
Entwicklung der Anästhesie
Als Beginn seiner modernen Geschichte wird der "Äthertag von Boston" angesehen: Am 16. Oktober 1846 wurde dort ein mit Äther narkotisierter Patient operiert und war während dieses Eingriffs offenkundig schmerzfrei. Zum ungläubigen Erstaunen damaliger Chirurgen, die bis dahin gezwungen waren, ihre auf Operationsstühlen festgebundenen Patienten bei vollem oder allenfalls etwas gedämpften Bewusstsein unter unsagbaren Qualen zu operieren.
Mit dieser erstmals öffentlich und erfolgreich durchgeführten Vollnarkose in der Neuzeit begann jedoch nicht nur die Geschichte der modernen Anästhesie. Flankiert durch die fast zeitgleiche Einführung vorbeugender Hygienemaßnahmen und später auch der Behandlung von Infektionen mit Antibiotika, markierte dieses Ereignis zugleich auch den entscheidenden Impuls, der die Entwicklung der Chirurgie und der übrigen operativ tätigen Fächer im heutigen Sinne überhaupt erst möglich machte: Es entstand eine bis heute fortbestehende, arbeitsteilige Spezialisierung, bei welcher der Anästhesist vor allem für die Überwachung, Sicherung und Erhaltung der entscheidenden "Vitalfunktionen" (Atmung, Kreislauf etc.) sowie für die Schmerzbehandlung und gegebenenfalls die Ausschaltung des Bewusstseins zuständig ist - und damit sicher stellt, dass der Erkrankte die chirurgische Behandlung durch den Operateur überhaupt einigermaßen ertragen und langfristig überleben kann.
Diese im Sinne der Fokusierung auf das Leben und die Sicherheit des Patienten extrem erfolgreiche Arbeitsteilung führte im weiterem Verlaufe der Geschichte allmählich dazu, daß den frühen Narkotiseuren auch die Hauptverantwortlichkeit für andere Aufgaben zuwuchsen, die - bei insgesamt ähnlichem Methodenspektrum - ebenfalls eines hohen Maßes an Kompetenz und Spezialisierung bedürfen. Heute umfasst das Fachgebiet der Anästhesiologie daher auch die Bereiche der Notfall-, Rettungs- und Katastrophenmedizin, der Intensivmedizin sowie der Schmerztherapie einschließlich der lindernden Behandlung sterbenskranker Menschen (Palliativmedizin).
Da in all diesen medizinischen Bereichen zugleich jedoch auch die berufs- und fächerübergreifende Zusammenarbeit mit Kollegen, Spezialisten und Mitarbeitern anderer Disziplinen unabdingbar ist, muss der moderne Anästhesist schließlich meist aber auch noch vielfache "Management-Funktionen" mit übernehmen: Die Abstimmung gemeinsamer Therapieplanungen innerhalb des Behandlungsteams, die bereits genannte, nicht zuletzt auch betriebswirtschaftlich verantwortliche Koordination von OP- und Funktionsbereichen, die vernetzte Leistungserfassung sowie die Qualitätssicherung und -Berichterstattung.
Seine im klinischen Spektrum einmalige Position zwischen den unterschiedlichsten medizinischen Disziplinen und Funktionsbreichen befähigt den Anästhesisten daher wie keinen anderen Kliniker, aus den vielfältigen und damit ebenso störanfälligen wie konfliktträchtigen "Schnittstellen" in einem Krankenhaus auch die Ausbildung tatsächlicher "Nahtstellen" zu ermöglichen.
Anästhesie in Lübeck
Die Entstehung des heutigen Lehrstuhls in Lübeck geht maßgeblich auf das Engagement des wohl wichtigsten Pioniers der modernen, institutionalisierten Anästhesiologie in Schleswig-Holstein zurück: Schon kurz nachdem im Jahre 1953 in Deutschland die endgültige Etablierung der Facharztbezeichnung für Anästhesie sowie die Gründung einer eigenständigen Fachgesellschaft vollzogen worden war, beteiligte sich Johannes Eichler (1920-1998) maßgeblich daran, die ersten Grundlagen für den späteren Lehrstuhl der Anästhesiologie in Kiel (ab 1971) zu legen. Dabei gelang ihm 1965 zugleich auch die erste Habilitation für das Fach in Schleswig-Holstein überhaupt.
Nachdem dann im Jahre 1964 die "Medizinische Akademie zu Lübeck" (als "Grundstock" der heutigen Universität) gegründet worden war, begann er auch hier damit, zielstrebig eine "Zentrale Anästhesie-Abteilung" auf- und auszubauen. Diese wurde ab 1970 zum ersten Lehrstuhl für Anästhesiologie in Schleswig-Holstein erhoben.
Gerade unter anästhesiehistorischen Gesichtspunkten kann der heutige "Standort Lübeck" zugleich aber auch noch auf viel ältere Traditionen zurückblicken: Insbesondere ist Lübeck seit nunmehr über 100 Jahren ein national wie international anerkanntermaßen führender Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort auf dem Gebiet der "medizinisch-technologischen Verbundforschung": Meist unter Federführung der ebenfalls ortsansässigen Drägerwerk-AG ermöglichte dabei eine ebenso systematische wie interdisziplinäre Kooperation eine große Zahl von therapeutisch und diagnostisch wichtigen Entwicklungen auf den Gebieten der Narkose- und Beatmungstechnik, der Intensiv- und Rettungsmedizin, der Tauch- und Druckgastechnik, der Luft- und Raumfahrtmedizin sowie des Arbeitsschutzes. Diese markieren zugleich u.a. auch die endgültig erfolgreiche Etablierung des Sauerstoffs als das bis zum heutigen Tage faktisch wichtigste sowie fast universell anwendbare "Basistherapeutikum" in der modernen Medizin überhaupt ("Sauerstofftherapie" i.w.S.).
Gegenwärtige Situation und die Perspektiven
Inzwischen verfügt die Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Universität zu Lübeck über rund 75 ärztliche und 120 nicht-ärztliche Mitarbeiter und kann eindrucksvoll eine kontinuierliche Fortentwicklung zu Gunsten der Patientenversorgung, Forschung und Lehre belegen.
Patientenversorgung
Mit etwa 24.000 Narkosen und Regionalanästhesien pro Jahr versorgt die Klinik alle operativen Spezialgebiete des Klinikums. Dabei werden täglich alleine 34 Regelarbeitsplätze in 12 operativen und interventionellen Funktionsbereichen besetzt. Darüber hinaus besteht eine stetig zunehmende Zahl weiterer Arbeitsplätze, die bei Bedarf in Betrieb genommen werden.
Das Krankengut ist breit gefächert: Aufgrund seiner Funktion als Schwerpunktkrankenhaus der Region und führendes Rettungszentrum in Schleswig-Holstein wird das Klinikum dabei in besonderem Maße durch Notfälle aller Kategorien in Anspruch genommen. Ärzte der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin sind daher auch maßgeblich in die regionalen und überregionalen Rettungsdienste eingebunden. Für denkbare klinikinterne Notfälle wird ein zentraler Reanimationsdienst bereitgehalten.
Eine Prämedikationssprechstunde trägt maßgeblich zur Verbesserung der Vorbereitung der einzelnen Patienten wie auch der innerbetrieblichen Strukturen auf planbare Operationen bei, während etliche Aufwachräume und ein Akutschmerzdienst die Weiterbehandlung bereits operativ versorgter Patienten optimieren. Eine interdisziplinäre Schmerzambulanz betreut Kranke mit komplexen, insbesondere chronischen Schmerzsyndromen oder auch palliativmedizinisch relevanten Problemen.
In einer Intensivstation mit 15 Pflegeplätzen, die alle einschlägigen intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten bietet, werden schließlich jährlich rund 2000 kritisch kranke Patienten betreut; die meisten davon nach besonders aufwändigen herzchirurgischen Eingriffen.
Forschung
Die wichtigsten Forschungsschwerpunkte des Lübecker Lehrstuhls für Anästhesiologie liegen auch heute noch in den Bereichen der Medizintechnik sowie vor allem auf dem Gebiet der Kreislaufforschung und -therapie, einschließlich deren Immunologie, Endokrinologie und Molekularbiologie. Hierzu bestehen an der Universität auch eine Reihe von Sonderforschungsbereichen sowie internationale Kooperationen. Die Ergebnisse der notfallmedizinischen Forschungen am Lübecker Lehrstuhl hatten maßgeblichen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Therapieleitlinien der nationalen und internationalen Fachgesellschaften und führten zu einer Vielzahl technischer Neuentwicklungen sowie struktureller und organisatorischer Verbesserungen. Dem besonderem Charakter der Anästhesiologie als "Schnittstellendisziplin", z.T. auch zu den Geisteswissenschaften, werden in Lübeck schließlich auch noch mehrer Projektgruppen gerecht, welche die Effekte anästhesiologisch relevanter Phänomene (Narkose, Schmerz, Intensivtherapie u.a.m.) auf psychomotorische Funktionen und die psychologisch-emotionale Befindlichkeit erforschen. Auch besondere Implikationen der Ethik, des Rechts, der Geschichte und der Didaktik für das Spektrum der klinischen Medizin werden untersucht.
Wissenschaftliche Publikationen, Dissertationen und Habilitationen
Zu allen genannten Schwerpunktthemen sind die Beiträge des Lübecker Instituts - auch nach externer Evaluation durch die Deutsche Forschungsgesellschaft DFG und den Wissenschaftsrat - im nationalen wie internationalen Schrifttum gut repräsentiert und anerkannt.
Dabei hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen in manchen Bereichen sogar vervielfacht. Auch mehrere weit verbreitete Lehrbücher sowie nationale und internationale Fachzeitschriften werden von Mitarbeitern des Lehrstuhls (mit)herausgegeben. Bei ebenfalls kontinuierlich steigender Tendenz werden pro Jahr schließlich rund 10 bis 15 medizinische Doktorarbeiten zu allen Themenbereichen abgeschlossen. Hinzu kamen zuletzt jährlich vier Habilitationen.
Lehre
Auch an der akademischen Lehre beteiligt sich die Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin mit weit überdurchschnittlichem Engagement und Erfolg. Damit trägt sie maßgeblich zur Umsetzung des Lübecker "Reformstudiengangs Medizin" bei, der sich durch großen Praxisbezug, eine interdisziplinärer Vernetzung der Ausbildung sowie problemorientiertes Lernen auszeichnet. Traditionell liegen die Lübecker Studierenden der Medizin mit ihren Leistungen in allen Prüfungsabschnitten deutlich über dem Bundesdurchschnitt und belegen vielfach Spitzenplätze.
Weiterhin verfügt das Klinikum selbstverständlich auch über die volle ärztliche Weiterbildungsermächtigung für das Fachgebiet der Anästhesiologie, einschließlich aller seiner Subspezialisierungen sowie für die Anästhesie- und die Intensivpflege.
Betriebsinterne, regionale und überregionale Fort- und Weiterbildungen für ärztliche und pflegerische Mitarbeiter werden häufig für die Universität zu Lübeck, das gesamte Universitätsklinikum Schleswig-Holstein sowie für die Weiterbildungsakademien der Berufsorganisationen und Fachgesellschaften organisiert und durchgeführt. Hinzu kommen jedes Jahr mehrere nationale und internationale Fachsymposien und Kongresse.
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend könnte man den modernen Anästhesisten durchaus als einen "Facharzt für perioperative Medizin" und damit als "hochspezialisierten Generalisten" bezeichnen. Zugleich ist er der meist wichtigste "Brückenbauer" in einem modernen Klinkbetrieb. Vor dem Hintergrund nicht unbegrenzt zur Verfügung stehender Ressourcen und der unvermeidlichen Grenzen des "medizinisch Machbaren" wirkt er im Sinne einer fairen Kooperation zwischen allen Beteiligten, der Beachtung der ökonomischen, strukturellen und sozialen Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten eines Klinikums ebenso wie unserer Gesellschaft insgesamt sowie nicht zuletzt im Sinne einer stets möglichst angemessenen, zeitnahen und kompetenten Betreuung auch des einzelnen Patienten.
Quelle
Strätling M, Niggebrügge C, Klotz K, Prüßmann M, Schmucker P (2004): Das Berufsbild des modernen Anästhesisten - Zwischen medizinischer Spezialisierung und disziplinübergreifender Integration. In: focus uni lübeck. Zeitschrift für Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Universität zu Lübeck, H. 3-4 21. Jahrgang, April 2004, S. 222-224. Weblink: http://www.uni-luebeck.de/aktuelles/hochschulmagazin/aktuelle-ausgabe/focus-mul-20043-4.html.