Schielen und Amblyopie
Schielen (Strabismus) nennt man die meist beständige oder immer wieder auftretende Fehlstellung eines oder beider Augen. Beide Augen schauen nicht in die gleiche Richtung. Vier Millionen Mitbürger*innen in Deutschland schielen.
Schielen ist nicht nur ein Schönheitsfehler (verniedlichend: Silberblick), sondern oft mit einer Sehbeeinträchtigung verbunden. Je früher das Schielen im Leben des Kindes auftritt und je später es vom Augenarzt*in behandelt werden kann, desto schwerer kann die Sehbeeinträchtigung werden und desto schwerer wird auch die Behandlung der Schiel-Sehschwäche. Da sich der Großteil der grundlegenden Sehentwicklung in den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren vollzieht, sinken die Erfolgschancen der Behandlung schon ab drei Jahren. Schielende Babys und Kleinkinder bedürfen einer möglichst frühzeitigen Behandlung. Je früher die Therapie einsetzt, desto wirkungsvoller und desto weniger belastend ist sie für das Kind.
Wie kommt es zu einer Sehschwäche (Amblyopie)?
Damit wir räumlich (3D) wahrnehmen können, müssen unsere beiden Augen auf dieselbe Stelle gerichtet sein. In beiden Augen entsteht dabei jeweils ein geringfügig unterschiedliches Bild. Diese beiden Bilder werden im Gehirn zu einem einzigen Seheindruck verschmolzen und es entsteht ein Tiefensehen, auch räumliches oder 3D-Sehen genannt. Beim Schielen hingegen treffen die Sehachsen nicht auf dieselbe Stelle, der Unterschied der beiden Bilder, den die Augen liefern, wird zu groß. Sie können im Gehirn nicht mehr richtig zur Deckung kommen und miteinander verschmolzen werden, somit ist keine räumliche Wahrnehmung möglich. Es entstehen aber störende Doppelbilder. Das kindliche Gehirn kann sich - im Gegensatz zum Erwachsenen - gegen Doppelbilder wehren, indem es das vom schielenden Auge übermittelte Bild unterdrückt. Der Vorgang hat zur Folge, dass das nicht benutzte Auge nach einiger Zeit sehschwach (amblyop) wird. Ebenso wird ein Auge sehschwach, wenn es aufgrund einer höheren oder rechts und links ungleichen Fehlsichtigkeit nicht benutzt wird (Refraktionsamblyopie) oder, wenn es wegen einer Augenerkrankung am scharfen Sehen gehindert wird (Deprivationsamblyopie).
Amblyopie nennt man die Sehschwäche eines organisch sonst gesunden Auges. Ohne Behandlung entwickeln nahezu 90 % aller Schielkinder eine einseitige Amblyopie. Wird diese Sehschwäche nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt, bleibt sie lebenslang bestehen. Das Kind kann dann nie mehr „lernen“, richtig beidäugig oder gar dreidimensional zu sehen. Dadurch kann die Berufswahl beeinträchtigt sein, da einige Berufe wie z.B. Berufsfahrer*in, Pilot*in etc. beidäugiges Sehen verlangen. Eine rechtzeitige Behandlung kann die Amblyopie so gut wie immer verhindern oder beheben und gelegentlich sogar ein brauchbares räumliches Sehen herstellen.
Wie sehen Babys und wie erlernen sie das Sehen?
Babys können schon kurz nach der Geburt mit ihren Augen die Umwelt wahrnehmen - allerdings nur sehr undeutlich. Die Fähigkeit, Farben zu sehen, hell und dunkel zu unterscheiden, Bewegungen und Gesichter zu erkennen ist häufig bereits im Alter von drei Monaten nachzuweisen.
Die Sehschärfe, die das Kind später zum Lesen benötigt, muss sich innerhalb eines begrenzten Zeitraumes durch ständiges unbewusstes Einüben entwickeln. Mit Schulbeginn ist das "Lernprogramm" der Augen praktisch abgeschlossen. Es gilt: "Was Hänschen nicht sieht, sieht Hans nimmermehr".
In den ersten Lebenswochen kann ein Kind die Bewegung der beiden Augen noch nicht richtig koordinieren. Gelegentliches Schielen ist in diesem Alter kein Grund zur Beunruhigung. Auch fixieren will gelernt sein.
Wenn jedoch ein Auge ständig von der Richtung des anderen abweicht, ist keine Zeit zu verlieren, weil das schielende Auge wegen der sonst auftretenden Doppelbilder vom Gehirn "abgeschaltet" und durch „Nichtstun“ amblyop wird. Die Sehschärfe entwickelt sich nämlich vor allem in den ersten zwei Lebensjahren, daher ist dies auch der optimale Zeitpunkt, um mit einer Therapie der Schiel-Sehschwäche zu beginnen. Die Amblyopie eines Kindes rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln, gehört zum Standard der augenärztlichen Ausbildung. In zahlreichen Augenarztpraxen und Kliniken gibt es spezielle orthoptische Abteilungen in denen eigens dafür ausgebildete Orthoptist*innen arbeiten.
Welche Schielformen gibt es?
Beim Schielen weicht ein Auge von der Blickrichtung des anderen ab. Die Abweichung kann dabei so gering sein (Mikrostrabismus), dass sie selbst aufmerksamen Eltern entgeht. Häufig ist jedoch beim Mikrostrabismus die Sehschärfe des schielenden Auges besonders schlecht, da er aufgrund des unauffälligen Aussehens zu spät erkannt und behandelt wird.
Oft schielt immer ein und dasselbe Auge, weil es schlechter sieht und/oder weniger beweglich ist (so genanntes einseitiges oder "monolaterales" Schielen). Sind beide Augen gleichwertig, beobachtet man meist ein wechselseitiges ("alternierendes"), also zwischen dem linken und rechten Auge abwechselndes Schielen. Das schielende Auge kann in verschiedenen Richtungen vom nicht-schielenden Auge abweichen.
Ist eine Fehlstellung ständig vorhanden, spricht man vom manifesten Schielen. Zum manifesten Schielen gehört auch das oben erwähnte Mikroschielen - in der Regel einseitig und nach innen gerichtet. Eine weitere Sonderform des manifesten Schielens ist das meist nach außen gerichtete, nur phasenweise auftretende ("intermittierende") Schielen.
Schielen ist nie harmlos oder nur niedlich, es "wächst sich auch nicht aus", sondern bewirkt meist eine einseitige Sehschwäche und schwere Störungen des beidäugigen und vor allem des dreidimensionalen Sehens, wenn die notwendige augenärztliche Behandlung verzögert wird.
Weit verbreitet ist das latente (versteckte) Schielen, auch Heterophorie genannt. Es lässt sich bei über 70 % aller Menschen nachweisen, wenn das beidäugige Sehen durch Abdecken eines Auges oder auf ähnliche Weise aufgehoben wird. In den meisten Fällen verursacht eine Heterophorie keine Beschwerden, aber wenn sie das Maß des Erträglichen überschreitet, kann sie Müdigkeit, Spannungsgefühl, Kopfschmerzen und Leseunlust auslösen. Eine Heterophorie mit Beschwerden bezeichnet der Augenarzt auch als Pathophorie.
Wie entsteht Schielen?
Schielen hat viele Ursachen. Die Tatsache, dass Schielen in manchen Familien gehäuft auftritt, lässt auf eine erbliche Veranlagung schließen. Vor allem, wenn ein Elternteil schielt oder wegen Schielens behandelt wurde, sollte das Kind schon im Alter von sechs bis zwölf Monaten dem Augenarzt*in vorgestellt werden. Häufig ist allerdings nur ein Mitglied der Familie vom Schielen betroffen, dabei Jungen und Mädchen gleichermaßen. Auch Risikofaktoren, die während der Schwangerschaft oder Geburt auftreten, können Schielen bewirken. In vielen Fällen sind die Ursachen im Auge selbst zu suchen, z.B. angeborene hohe und/oder seitenbezogen ungleiche Brechungsfehler, einseitige Linsentrübungen, selten auch Tumore im Auge oder Verletzungen.
Manchmal beginnen die Augen plötzlich zu schielen, z.B. bei Kinderkrankheiten mit hohem Fieber, nach Unfällen - etwa Gehirnerschütterung, bei Linsentrübung, Netzhautablösung - aber auch in schweren seelischen Krisen. Kinder, die bislang beidäugig gesehen haben, nehmen dann kurzzeitig Doppelbilder wahr, bis das Gehirn es lernt, sie zu unterdrücken.
Jedes plötzliche Schielen im Kindesalter bedarf einer umgehenden augenärztlich-orthoptischen Diagnostik, die auch über die Notwendigkeit einer kinderärztlich-neurologischen Abklärung entscheiden muss.
Gibt es frühe Warnzeichen für Schielen oder Amblyopie?
Kinder, die auffällig schielen, haben die besten Chancen, rechtzeitig behandelt zu werden, weil ihre Eltern schon aufgrund des deutlich sichtbaren "Schönheitsfehlers" frühzeitig mit ihnen zum Augenarzt*in gehen. Leider sind die kaum oder gar nicht sichtbaren Abweichungen (Mikrostrabismus) in der Überzahl. In fast der Hälfte der Fälle sind Amblyopien nicht einmal durch Schielen, sondern durch eine einseitige und/oder hohe Fehlsichtigkeit bedingt. Sie fallen oft erst dann auf, wenn eine verlässliche Sehschärfenbestimmung möglich ist, etwa bei den Vorsorgeuntersuchungen U8 oder U9 oder gar erst beim Einschulungssehtest. Dann ist es für eine erfolgreiche Behandlung meist zu spät. Allein aus diesem Grund haben vier Prozent der Mitbürger*innen eine erhebliche einseitige Sehschwäche.
Auf die Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 haben alle Kinder gesetzlichen Anspruch. Es ist aber erwiesen, dass durch die Untersuchungen U1 bis U7 nur zehn Prozent der Fehlsichtigkeiten und Stellungsfehler rechtzeitig aufgedeckt werden, d.h. bis spätestens kurz nach dem 3. Geburtstag. Werden sie erst bei den Untersuchungen U8 und U9 erkannt, ist es für eine erfolgreiche Amblyopie-Behandlung meist zu spät. Dies liegt einmal daran, dass längst nicht alle Eltern dieses Angebot wahrnehmen, zum anderen findet bisher keine Vorsorgeuntersuchung in der Augenarztpraxis statt, wo die besten Voraussetzungen bestehen, die Amblyopie schon bei Säuglingen und Kleinkindern zu erkennen. Die mit 43 bis 48, bzw. 60 bis 64 Lebensmonaten vorgesehenen Vorsorgemaßnahmen U8 und U9 mit einseitiger Sehprüfung kommen insbesondere für sehr früh aufgetretene Amblyopien reichlich spät.
Leider gibt es im Kleinkindalter keine eindeutigen Merkmale, die darauf hinweisen, dass eine Sehschwäche welcher Ursache auch immer vorliegt. Es ist daher allen Eltern dringend zu empfehlen, nicht nur die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen, sondern ihr Kind, auch wenn es unauffällig erscheint, zusätzlich zur U7 im Alter von 30 bis 42 Monaten augenärztlich-orthoptisch untersuchen zu lassen.
Wie wird Schielen behandelt?
Die Schielbehandlung basiert auf zwei (gegebenenfalls drei) wichtigen Säulen:
Versorgung mit Brillengläsern, um Brechungfehler zu korrigieren.
Behandlung der Sehschwäche (Amblyopie). Dabei wird das bessere Auge abgedeckt, um das schwächere durch Training zu fördern.
Operative Korrektur durch Umlagerung von Augenmuskeln: bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder.
Schielen und Brille
Zunächst ermitteln die Orthoptist*in und der Augenarzt*in gemeinsam die Ursache des Schielens. Einwärtsschielen, das erst im zweiten Lebensjahr oder später auftritt, wird bei mehr als der Hälfte der Kinder durch nicht korrigierte Fehlsichtigkeit verursacht. Dabei handelt es sich in der Regel um eine stärker ausgeprägte Übersichtigkeit (im allgemeinen Sprachgebrauch oft auch Weitsichtigkeit genannt). Mit der "richtigen" Brille kann der Augenarzt bei vielen dieser Kinder das Schielen beheben oder zumindest verringern. Eine Brillenbehandlung ist schon im ersten Lebensjahr möglich. Oft wird die Sehhilfe von kleineren Kindern besser akzeptiert als von Zwei- bis Dreijährigen in der Trotzphase.
Wie wird die Schiel-Sehschwäche (Amblyopie) behandelt?
Zur Verhinderung oder Behandlung einer Amblyopie dient die Abdeck- oder Okklusionsbehandlung, bei der nach Anweisung des Augenarztes in einem bestimmten Rhythmus Pflaster auf das nicht-schielende Auge geklebt werden. Der Pflasterverschluss des nicht-schielenden Auges soll das Trainieren des schielenden Auges bewirken. Das Pflaster wird nie ständig, sondern in individuell empfohlenen Intervallen getragen, somit besteht keine Gefahr, dass das bessere Auge sehschwach wird. Wenn ein Kind wegen Hautreaktionen das Pflaster nicht verträgt, kann der Augenarzt eine Stoffkapsel verordnen oder bei Versagen dieser Methode halbdurchsichtige oder undurchsichtige Folien für das Brillenglas verordnen. Nur selten erfolgt die Therapie mit Augentropfen oder Augensalben, die nach festgelegtem Zeitplan in das nicht-schielende Auge gegeben werden, um vorübergehend seine Sehschärfe gezielt zu vermindern.
Wichtig für den Erfolg der Amblyopiebehandlung ist die Mithilfe der Eltern, die dafür sorgen, dass die Trainingsphasen sorgsam eingehalten werden, die der Augenarzt*in in Zusammenarbeit mit der Orthoptist*in, in jedem Fall exakt festlegt.
Die Amblyopiebehandlung muss meist über Jahre, manchmal bis über den 13. Geburtstag hinaus, zusätzlich zur Brille und auch nach erfolgreicher Operation fortgesetzt werden. Wenn die Amblyopie erstmals beim älteren Kind/Schulkind behandelt wird, ist leider meist keine normale volle Sehschärfe zu erreichen.
Wann ist eine Schiel-Operation notwendig, wie geht sie vor sich?
Abhängig von der Art des Schielens und der Schielwinkelgröße, sollte die Fehlstellung durch eine Operation an den äußeren Augenmuskeln korrigiert werden.
Manchmal ist die operative Stellungskorrektur Voraussetzung für weitere Maßnahmen wie Schulungen oder die Abdeckbehandlung. In der Regel erfolgt die Operation erst dann, wenn das Kind die Brille verlässlich trägt, mit beiden Augen annähernd gleich gut sieht und bei der Untersuchung ausreichend mitarbeitet.
Der ideale Zeitpunkt bei gesunden Kindern mit frühkindlichem Schielen liegt im 5. bis 6. Lebensjahr, da
die Brille in der Regel gut getragen wird
die Amblyopie weitestgehend behoben ist
die Kooperation eine sehr genaue Winkelausmessung vor der Operation ermöglicht und somit das operative Ergebnis besser planbar wird
das Kind ein größeres Verständnis für die Situation hat und nicht so ängstlich reagiert wie jüngere Kinder.
Schieloperationen sind ausgesprochen risikoarm und haben gute Erfolgsaussichten. Sie werden vom Augenarzt*in bei Kindern in Allgemeinnarkose ausgeführt, d.h. nach der Beruhigungsspritze und der Narkoseeinleitung spürt das Kind von dem Eingriff nichts mehr. Nach dem Aufwachen machen sich noch für etwa 48 Stunden leichte Schmerzen oder ein Fremdkörpergefühl bemerkbar - vor allem bei Augenbewegungen. Ein Fadenzug ist nicht erforderlich, da die Fäden sich langsam von allein auflösen. Dadurch, dass die Fäden langsam weicher werden, lässt auch das Fremdkörpergefühl über die nächste Zeit nach. Postoperativ müssten Augentropfen und -salbe getropft werden, um eine Entzündung zu verhindern.
Während der ersten Woche nach dem Eingriff ist die Bindehaut am Auge oft noch deutlich gerötet und manchmal auch geschwollen. Nach kurzer Zeit aber sieht man nicht mehr, dass am Auge operiert wurde. Bei der Operation wird das Auge weder herausgenommen noch aufgeschnitten. Der Augenarzt*in öffnet lediglich die leicht heilende Bindehaut, um an den unmittelbar darunter liegenden Augenmuskeln operieren zu können. Von der Art und der Stärke der Fehlstellung und vom Ergebnis der Vorbehandlung hängt es ab, ob ein einmaliger Eingriff genügt oder ein Mehrstufenplan notwendig ist. In wenigen, nicht voraussehenden Fällen muss trotz bester Planung und Operationstechnik entweder bald nach der ersten Operation oder auch erst Jahre danach ein zweites Mal operiert werden.
Wie können Kind, Eltern und Augenarzt zusammenarbeiten?
Abgesehen von der Operation ist der Augenarzt*in bei allen anderen Therapiemaßnahmen nur dann erfolgreich, wenn die Eltern zuverlässig mitwirken. Der Augenarzt*in und die Orthoptist*in müssen sich darauf verlassen können, dass das Kind die verordnete Brille ausnahmslos und ununterbrochen trägt, dass bei der Okklusionsbehandlung Haut- oder Brillenpflaster so lange, wie festgelegt, aber auch nicht länger als vorgeschrieben auf dem Auge bleiben, dass sie auch nicht "nur mal zwischendurch" abgenommen werden und dass jeder Termin eingehalten wird.
Ihr Augenarzt*in und die Orthoptist*in wissen, dass Sie und Ihr Kind viel Geduld und Durchhaltevermögen aufbringen müssen. Sie werden Sie in jeder Weise unterstützen: medizinisch, psychologisch und durch eingehende Informationsgespräche.