Erste deutsche Leitlinie zur Lebertransplantation

Mehr als 50 Jahre nach der ersten erfolgreichen Lebertransplantation (LTx) in Deutschland durch Prof. Alfred Gütgemann im Jahr 1969 in Bonn (https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Alfred-Guetgemann-Pionier-der-Lebertransplantation,audio364936.html) und 60 Jahre nach der weltweilt erstmaligen LTx durch Prof. Thomas Starzl 1963 in Denver, USA liegt nun die erste deutsche Leitlinie zur Lebertransplantation vor. In den letzten Jahren wurden in Deutschland pro Jahr durchschnittlich fast 800 postmortale Leber- und ca. 50 Leberlebend-Transplantationen an 21 Transplantationszentren durchgeführt.

Die S2k-Leitlinie Lebertransplantation der DGVS und DGAV wurde 2016 begonnen und liegt seit Dezember 2023 in seiner endgültigen Fassung vor. Die Ursachen und Folgen der langen Entwicklungsdauer werden am Ende des Artikels dargestellt. Die S2k-Leitlinie ist dennoch ein Paradebeispiel für eine gelungen Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Innerer Medizin und Chirurgie sowie allen beteiligten Fachgebieten und PatientInnenorganisationen.  Sie basiert auf der konstruktiven Zusammenarbeit der am Lebertransplantationsprozess praktisch beteiligten MitarbeiterInnen. Die Leitungen der Arbeitsgruppen waren jeweils paritätisch (Chirurgie, Innere Medizin) besetzt. Die Leitlinie fasst auf 350 Seiten und anhand von über 1.600 Literaturzitaten die notwendigen Abläufe des Lebertransplantationsprozesses zusammen. Sie ist praxisorientiert und enthält eine Vielzahl an klinisch relevanten Check-Listen. Sie dient der Harmonisierung der in den deutschen Transplantationszentren etablierten Abläufe. Bei der Entwicklung der Leitlinie wurde aber auch die oft fehlende Evidenz und der Mangel an validen klinischen Studien sichtbar. Mit der Vereinheitlichung der klinischen Abläufe wird nun die Zusammenarbeit der Transplantationszentren und die Transplantationsforschung gestärkt.

Angesichts des Umfanges der Leitlinie werden hier nur die internistisch relevanten Aspekte vorgestellt.

Das eine Lebertransplantation Leben retten kann ist unbestritten. Das aber auch jede Maßnahme die eine Lebertransplantation im Sinne der Patienten vermeiden kann sinnvoll ist, ist ein wesentlicher Punkt. Dies wird bereits im ersten Kapitel ausgeführt:
„Grundsätzlich soll vorher alles unternommen werden, um eine Lebertransplantation zu verzögern oder zu verhindern. Dies beinhaltet die Behandlung der entsprechenden Grunderkrankung (z. B. antivirale Therapie oder Alkoholabstinenz) was zu einer drastischen Verbesserung der Leberfunktion und der Prognose des Patienten/der Patienten führen kann. Gleiches gilt für die spezifische Therapie der einzelnen Komplikationen ….“

Bei bestehender Indikation sollte aber immer eine rechtzeitige Vorstellung in einem Lebertransplantationszentrum erfolgen:
„Patienten mit einer Leberzirrhose, die generell für eine Lebertransplantation in Frage kommen, sollen spätestens in einem Lebertransplantationszentrum vorgestellt werden, wenn entweder der MELD-Score ≥ 15 ist oder unabhängig vom MELD-Score, Komplikationen der Zirrhose auftreten (Empfehlung 1.2.1).“

Der MELD-Score sollte dabei nicht das alleinige Kriterium sein, wesentlich ist auch die klinische Beurteilung der Situation:
„Bei schwerwiegenden Komplikationen der Leberzirrhose sollte auch bei einem MELD < 15 die Indikation zur Lebertransplantation geprüft werden (Empfehlung 1.2.2).“

Hervorzuheben ist auch die konsensuelle Entscheidungsfindung zur Transplantation:
„Die Entscheidung über eine Lebertransplantation sollte bei diesen Patienten auf individueller Basis und unter Einbeziehung des Patientenwillens durch die interdisziplinäre Transplantationskonferenz getroffen werden (Empfehlung 1.2.2.).“

Das akute Leberversagen (ALV) stellt für die betroffenen Personen und das Behandlerteam immer eine besondere Situation dar. Die ärztliche Entscheidung zwischen der Möglichkeit einer Leberregenation und dem richtigen Zeitpunkt der Lebertransplantation muss immer wieder im Team diskutiert werden. Die bisher dafür verwendeten Scores bilden nicht immer die komplexe Situation vollständig ab.

Zwei neue Konzepte sind hervorzuheben. Zum einen stellt jetzt auch die akute Dekompensation einer Autoimmunhepatitis eine Indikation für eine hochdringliche Lebertransplantation dar. Zum anderen sollte unabhängig von der Genese des ALV immer zeitnah eine intravenöse Therapie mit N-Acetylcystein (NAC) erfolgen und auch extrakorporale Therapieverfahren (z.B. Plasmapherese, Albumin-Dialyse) diskutiert werden. Das Kapitel gibt zusätzlich eine gute Handlungsanweisung für die minimalen Evaluations-Standards für die Evaluation beim ALV.

Im nachfolgenden Abschnitt wird ausführlich auf das erst in den letzten Jahren in die klinische Routine übernommene Konzept Akut-auf-chronisches Leberversagen (ACLV) eingegangen. Das ACLV ist gekennzeichnet durch eine ungünstige Prognose und bedarf wie das ALV einer rechtzeitigen Kontaktaufnahme mit einem Lebertransplantationszentrum und einer schnellen Entscheidungsfindung. Dabei sollte auch das Vorliegen eines ACLV Grad 3 nicht als eine generelle Kontraindikation zur Lebertransplantation angesehen werden.

Eine weitere Besonderheit stellt die Behandlung einer akuten alkoholischen Steatohepatitis mit konsekutiven, therapierefraktären Leberversagen dar. In Analogie zum ACLV sollte diese Personen zeitnah in einem Transplantationszentrum vorgestellt werden. Denn auch für Fälle mit alkoholischer Genese, die nicht auf die initiale Behandlung ansprechen, kann nun nach einem sorgfältigen interdisziplinären Evaluationsprozess eine frühe Listung zur Lebertransplantation erfolgen.

Neben den bekannten organischen und psychiatrischen Kontraindikationen geht die Leitlinie auch auf die relevanten Bevölkerungsentwicklungen, dem Lebensalter und der Adipositas ein. Sowohl das chronologische Alter (> 70 Jahre) als auch ein Body-Mass-Index ≥40 kg/m2 sollen dabei nicht allein als Kontraindikation für eine Lebertransplantation gewertet, sondern immer im Kontext des Gesamtzustandes des Patienten und unter Berücksichtigung der Komorbiditäten betrachtet werden.

Das Kapitel zur Thema Hepatozelluläres Karzinom (HCC) folgt den internationalen Standards und steht im Konsens mit den aktuellen deutschen Richtlinien zur Lebertransplantation der Bundesärztekammer (BÄK) und der deutschen HCC-Leitlinie. Die Leitlinie ermöglicht aber auch individuelle Ausnahmen auf dem Boden wissenschaftlicher Daten und stellt somit einen Korridor dar, der auch individuelle Entscheidungen in Bezug auf das Tumorgeschehen und der zugrundeliegenden Lebererkrankung ermöglicht. Patienten mit einem kurativ behandelbarem HCC sollten aber immer in einem Lebertransplantationszentrum vorgestellt werden. Im Gegensatz zu den Richtlinien der BÄK und der HCC-Leitlinie, sieht die S2k-LTx-Leitlinie auch den Tumormarker Alphafetoprotein (AFP) als einen Baustein zur Entscheidungshilfe vor.

Einen großen Abschnitt nimmt der Themenkomplex Evaluation und Management auf der Warteliste ein. Der Bereich ist sehr praxisorientiert und vereinheitlicht die in den Zentren bereits etablierten Standards. Insbesondere wird auf das signifikant erhöhte operative Risiko für PatientInnen mit Zirrhose auf der Warteliste hingewiesen. Elektive operative Eingriffe sollten wegen der Gefahr der Leberfunktionsverschlechterung und der daraus resultierenden erhöhten Morbidität und Letalität nur nach strenger Indikationsstellung erfolgen

In den Kapiteln Immunsuppression und Komplikationsmanagement steht die Harmonisierung der Abläufe im Vordergrund. Das Kapitel Immunsuppression enthält eine Vielzahl übersichtlicher, praxisorientierter Tabellen. Eine möglichst steroidarme/-freie und an die hepatologische Grunderkrankung angepasste Immunsuppression ist das wesentliche Leitbild des Kapitels. Der post-LTx-Verlauf wir im Wesentlichen auch durch den körperlichen Zustand der Patienten vor der Transplantation definiert. Die rechtzeitige Diagnostik und Behandlung der Komplikationen der Zirrhose (Sarkopenie, Frailty) sind mit einem signifikant besseren post-LTx Verlauf vergesellschaftet.

Die Nachsorge und der Langzeitverlauf nach erfolgter Transplantation wird auf fast 50 Seiten dargelegt und lässt sich zusammenfassen mit:
„Ein transplantierter Patient bleibt lebenslang ein transplantierter Patient“.
Es wir Stellung genommen zu den möglichen frühen post-operativen Komplikationen aber auch zum Langzeitmanagement incl. der medikamentösen und altersassoziierten Aspekten. Ein Jahr post-LTx können in Abhängigkeit vom bisherigen Verlauf auch individualisierte, zentrumsassoziierte und sektorenübergreifende Nachsorgekonzepte erfolgen.

Im Kapitel „Rezidiv der Grunderkrankung – Therapie und Prophylaxe“ erfolgt noch eine umfassende Darstellung in Bezug auf Lebergrunderkrankung sowie entsprechende Verweise auf ergänzenden Leitlinien.

Das letzte Kapitel „Leberlebendspende“ gibt abschließend eine sehr gute, praxis-orientierte Übersicht über dieses leider nur noch an wenigen deutschen Zentren routinemäßig etabliertes Lebertransplantationskonzept. Im Vordergrund steht dabei immer der Spenderschutz.

Mit der vorliegenden S2k-LL Lebertransplantation wurde ein Standard geschaffen, auf dem aufgebaut und der die Versorgungslage in Deutschland verbessern kann.

Weiterhin stellt die Leitlinie eine optimale Ergänzung zu den aktuellen Leitlinien

  • Aktualisierte S2k-Leitlinie nicht-alkoholische Fettlebererkrankung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) (April 2022 – AWMF-Registernummer: 021–025).

  • S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Hepatozellulären Karzinoms (Version 3.0 - August 2023 AWMF-Registernummer: 032/053OL)

In den Querschnittspunkten sind die drei Leitlinien kongruent und dadurch ebenfalls intersektoral und interdisziplinär verbindlich.

Die lange Entwicklungsgeschichte begann bereits mit teils intensiven Diskussionen mit der BÄK in der initialen Phase 2015/2016 der Leitlinienentwicklung. Es bestand von Seiten der BÄK die Sorge, dass mit den von der Ständigen Kommission Organtransplantation der BÄK (StäKO) formulierten Richtlinien zur Lebertransplantation und der S2k-Leitlinie Lebertransplantation zwei verschieden Standards zur Lebertransplantation in Deutschland vorliegen könnten. Insbesondere galt dies für den Abschnitt der Indikation zur Lebertransplantation. Auf die historische Entwicklung und die politische Entscheidung zur Rolle der StäKO für die Lebertransplantation in Deutschland kann hier aus zeitlichen Gründen nicht eingegangen werden. Die Legitimation erscheint aber aus heutiger Sicht juristisch-normativ fraglich. Für die Transplantation sind neben den wissenschaftlich-klinischen Grundlagen natürlich auch die normativen juristischen und ethischen Aspekte von wesentlicher Bedeutung. Das sollte aber nicht dazu führen, dass eine Richtlinie, mit ihrer im Wesentlichen juristisch-ethischen Kernkompetenz, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Leitlinie ad absurdum führt.

Der stattgehabte Ablauf sollte aber einen Diskurs eröffnen damit in Zukunft der Erstellungsprozess im Sinne unserer PatientInnen zügiger erfolgen kann. Weiterhin sollte überlegt werden, ob nicht auch die Zugehörigkeit zu entsprechenden Kommissionen wie der StäKO, in der Leitlinie dokumentiert werden sollte, um die Motivation und Entscheidungen der Beteiligten besser zu verstehen. Die Freiheit des wissenschaftlichen Beitrages muss geschützt werden, gleichzeitig müssen aber auch methodische Transparenz und Genauigkeit gegeben sein. Transparenz über den Erkenntnisgewinn selbst, sollte für Alle erkenntlich sein. Ein Qualitätsprinzip das in der Wissenschaft schon jeher zum Standard gehört.

Eine ganz praktische Folge der Entstehungsprozesses seit 2016 ist, dass der größte Teil der Literaturangaben und damit die Basis der Leitlinie aus der Anfangszeit der Leitlinienarbeit stammen. Nur ca. 3% der zitierten Arbeiten stammt aus den Jahren nach 2020. Auch die bereits international etablierte modifizierte Bezeichnung zur metabolischen Fettlebererkrankung finden sich in der vorliegenden Konsultationsfassung noch nicht.

Die aktuelle S2k-Leitlinie Lebertransplantation ist sicherlich nicht der letzte Schritt und muss, wie bereits ausgeführt, angesichts der Folgen des langen Zeitraums, zeitnah an die aktuellen medizinischen Entwicklungen angepasst werden. Sie ist aber bereits in ihrer jetzt vorliegenden Form eine gute Informations- und Handlungsbasis sowohl für den Transplantationsspezialisten als auch den Behandler von Patienten mit akuten und chronischen Lebererkrankungen. Sie hat im positiven Sinn einen Lehrbuchcharakter und eignet sich hervorragend als Vorbereitung für die Zusatzweiterbildung Transplantationsmedizin.

Literatur

Berg T. et al. S2k-Leitlinie Lebertransplantation der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) Dezember 2023 – v1.0 AWMF-Registernummer: 021 – 029

Guenther R. Lebenszeichen 02/2024, 8-10

Guenther R. Die Innere Medizin, 04/2024, 388-390

Malek NP et al. Diagnostik und Therapie des Hepatozellulären Karzinoms und biliärer Karzinome Version 4.0 – August 2023 AWMF-Registernummer: 032-053O

Roeb E et al.  Aktualisierte S2k-Leitlinie nicht-alkoholische Fettlebererkrankung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS). Z Gastroenterol 2022; 60: 1346–1421

Amendment „Neue Nomenklatur zur MASLD (Metabolic Dysfunction Associated Steatotic Liver Disease; metabolische Dysfunktion assoziierte steatotische Lebererkrankung)“ zur S2k-Leitlinie „Nicht-alkoholische Fettlebererkrankung“ (v.2.0 / April 2022) der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) März 2024

NDR- Webseite - Audiobericht: Alfred Gütgemann: Pionier der Lebertransplantation