In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Patientinnen und Patienten in den Notfallaufnahmen in Deutschland konstant gewachsen . Die daraus resultierende Überbelegung von Notaufnahmen und die damit die Gefahr der inadäquaten, nicht an die medizinische Notwendigkeit angepassten Patientenversorgung, wird in der wissenschaftlichen Literatur weltweit und auch in Deutschland intensiv diskutiert. Außerdem führt eine nicht optimale Ressourcennutzung zu langen Wartephasen entlang des gesamten Aufenthaltes und damit zur Unzufriedenheit von Patienten und damit gleichermaßen des Klinikpersonals. Neben strukturellen Maßnahmen zur Regulation des Patientenzustroms, die außerhalb des Krankenhauses wirken, hat die Prozessoptimierung innerhalb der Notaufnahme großes Potential. Das klassische Vorgehen der Notfalldiagnostik und -therapie besteht aus einer Summe von Einzelprozessen, die bei unzureichenden Ressourcen jeweils auf die medizinische Dringlichkeit abgestimmt werden und bei denen Verzögerungen jedes einzelnen Prozessschrittes die Verweildauer und die Arzt-/Patientenbindungszeit verlängert. Nach stattgefundener Notfalldiagnostik und -therapie kommt es gehäuft zu Verzögerungen bei Verlegungen sowohl auf Normal- als auch Intensivstationen, so dass die Notfallpatienten prolongiert in der Notaufnahme verbleiben und Ressourcen binden. Sowohl die Übergänge zwischen den einzelnen Diagnostik- und Behandlungsschritten als auch die Behebung der Ressourcenbindungen könnten durch früher verfügbare Informationen über potenzielle Nachfolgebehandlungen und nötige Behandlungsinstrumente verbessert werden. Ein Assistenzsystem soll Lösungen für die hier aufgezeigten Herausforderungen bieten. In diesem Anwendungsfall fällt eine klassische informatische Spezifikation des Problems schwer. Es wird ein intelligentes System benötigt, dass einen hohen, über Studien einschätzbaren Nutzen bringt. Zu etablieren ist durch das beantragte Projekt die bestmögliche Anwendung von Technologien aus der Wissenschaft der Künstlichen Intelligenz (KI), z.B. zur Vorhersage der im Verlauf benötigten Ressourcen, basierend auf historischen und aktuellen Daten in der Notaufnahme, so dass der Gesamtprozess optimiert werden kann.
Konkretes Ziel ist es, durch den Einsatz von KI-Technologie die Prozessabläufe in der Notaufnahme in Bezug auf personelle, räumliche und technische Ressourcen zu optimieren. Das zu entwickelnde intelligente Assistenzsystem soll Entscheidungsträger und Prozessbeteiligte dabei unterstützen, Entscheidungen zu verbessern und eine effizientere Planung zu ermöglichen. Hervorzuheben ist, dass es sich nicht um den klassischen „Clinical Decision Support“ handelt, (bei dem gezielt die Diagnostik für bestimmte Krankheiten verbessert werden soll,) sondern um ein System, dass insgesamt die Prozessabläufe und die damit verbundene Ressourcenplanung optimiert. Die dafür benötigten Daten liegen bereits separiert in Krankenhausinformationssystemen vor und müssen im Rahmen des Projektes nutzbar gemacht werden. Die nachfolgende Abbildung enthält eine graphische Darstellung der zehn typischen Prozessschritte in der Notfallaufnahme.
In diesen einzelnen Schritten können sowohl Daten anfallen, die eine Planung im späteren Verlauf ermöglichen als auch für Analysen und Vorhersagen genutzt werden, um die Versorgung selbst oder den Übergang an Schnittstellen zu beschleunigen und zu verbessern.
Ein konkretes Beispiel: Eine 85-jährige Patientin wird mit Luftnot in die Notaufnahme eingeliefert. Im Rettungswagen wurde die Verdachtsdiagnose einer Lungenentzündung gestellt. Weitere mögliche Hypothesen sind eine Lungenarterienembolie, eine dekompensierte Herzinsuffizienz oder eine exazerbierte COPD. Beim Eintragen der Daten in das Krankenhausinformationssystem werden unter Berücksichtigung der Vordiagnosen bereits jetzt Vorhersagen getroffen, welche weiteren Behandlungen notwendig sind. Das intelligente Assistenzsystem erkennt hier die ca. 80prozentige Wahrscheinlichkeit eines stationären Aufenthaltes und die 95prozentige Wahrscheinlichkeit einer Röntgenuntersuchung. Eine intensivmedizinische Behandlung ist nur zu 15 Prozent anzunehmen. Sowohl Röntgen-MTA als auch Belegungskoordination werden informiert und können Vorbereitungen treffen. Die ärztliche Untersuchung ergibt Wassereinlagerungen in den Beinen. Die Röntgendiagnostik in Schritt 4 ergibt, dass auch Wassereinlagerungen in der Lunge vorhanden sind. In dieser Befundkonstellation, zusammen mit den eingetroffenen Laborwerten, verwirft das intelligente System die Verdachtsdiagnose „Lungenentzündung“ und schlägt eine dekompensierte Herzinsuffizienz als wahrscheinlichste Diagnose vor. Es werden ein EKG und eine Ultraschalluntersuchung des Herzens als weitere Diagnostikmittel mit hoher Nutzungswahrscheinlichkeit vorgeschlagen. Die entsprechende Wahrscheinlichkeit für einen stationären Aufenthalt ist damit auf 99 Prozent angestiegen. Demzufolge können die Intensivstationen entwarnt werden. Die Dauer für den stationären Aufenthalt wird auf sieben Tage geschätzt und eine entsprechende Planung vorgenommen. Durch die repetitive Analyse dieser dynamisch entstehenden Informationen erscheint zudem neben der operativen Prozessoptimierung auch eine automatisierte Einschätzung medizinischer Risiken möglich, z.B. in Bezug auf kritisch kranke Patienten, . Dies führt neben einer Optimierung von Abläufen auch zu einer Verbesserung der Versorgung und steigert so zusätzlich die Patientensicherheit.
Architektonisch bedarf es eines KI-gestützten Assistenzsystems, das historische Daten nutzt, um bestimmte Diagnose- und Behandlungsmuster zu lernen, damit dann für jeden einzelnen neuen Patienten Vorhersagen über Behandlungsschritte, vorzuhaltende Kapazitäten und nötige Vorbereitungen in den Folgeprozessschritten zu treffen sind. Diese Vorhersagen werden typischerweise im Zeitverlauf des Prozesses exakter, weil mehr Informationen über den Patienten und die Diagnose vorliegen. Unter Nutzung von probabilistischen Vorhersagen können so in Echtzeit aggregierte Bedarfe an alle Beteiligten in den einzelnen zehn Prozessschritten übermittelt werden. Ein Vorteil für das Klinikpersonal ist eine bessere Planbarkeit der Arbeitsabläufe. Für die Patienten reduziert sich die Wartezeit und es erhöhte sich auch die Behandlungsqualität. Dies führt insgesamt zu einer gesteigerten Zufriedenheit und hochwertigeren Gesundheitsversorgung.
Das oben beschriebene Projekt ist eine Kooperation aus UKSH, DFKI und Singular IT und wurde dankenswerterweise vom Land Schleswig-Holstein finanziell großzügig unterstützt.
Für Rückfragen stehen zur Verfügung
Universitätklinikum Schleswig-Holstein
Dr. Sebastian Wolfrum
sebastian.wolfrum@uksh.de
DFKI Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz
German Research Center for Artificial Intelligence
Prof. Dr. Ralf Möller
ralf.moeller@dfki.de
singularIT GmbH
Dr. Mattis Hartwig
mattis.hartwig@singular-it.de
Pressemitteilung des UKSH - UKSH und Verbundpartner untersuchen Einsatz von KI-Technologie zur Optimierung der Notfallversorgung
Digitalisierungsminister Schrödter übergibt Förderbescheid des Landes in Höhe von 563.800 Euro an KI-Verbundprojekt APONA
Die Zahl der Patientinnen und Patienten in den Notaufnahmen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) ist wie im gesamten Bundesgebiet in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Die Auslastung der Notaufnahmen und das Risiko einer unzureichenden Patientenversorgung, die nicht den medizinischen Erfordernissen entspricht, werden in Fachkreisen intensiv diskutiert. Hinzu kommt, dass eine nicht optimale Ressourcennutzung zu längeren Wartezeiten führt, was wiederum zu einer Unzufriedenheit bei Patientinnen und Patienten als auch den Mitarbeitenden führen kann.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, fördert das Land das Verbundprojekt „Assistenzsystem zur Prozessoptimierung in der Notaufnahme – APONA“ am UKSH mit insgesamt 563.800 Euro. Das Forschungsvorhaben ist ein Zusammenschluss des UKSH, des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) und der singularIT GmbH. Das Hauptziel des Verbundprojekts ist es, mithilfe von KI die Prozesse in der Notaufnahme in Bezug auf personelle, räumliche und technische Ressourcen zu verbessern. „Wer in die Notaufnahme kommt, hat zumeist ernsthafte, gesundheitliche Sorgen. Wenn dann unklar ist, wie lange der Aufenthalt dauert oder welche Schritte als nächstes erfolgen, bedeutet dies eine zusätzliche Belastung für die Patientinnen und Patienten, aber auch für das medizinische Personal“, sagte Digitalisierungsminister Dirk Schrödter. „Das KI-Projekt APONA leistet einen signifikanten Beitrag, die Prozessabläufe in der Notaufnahme zu verbessern und zeigt, wie künstliche Intelligenz einen direkten, positiven Einfluss auf die Menschen hat. Darüber hinaus hebt das Verbundprojekt einmal mehr Lübeck als KI-Leuchtturm im medizinischen Bereich hervor und verdeutlicht, wie auch die vielen KMUs im Land von der Zukunftstechnologie und der KI-Förderung profitieren können.“
Die Vorteile der Unterstützung durch APONA werden am Campus Lübeck getestet, um die Praktikabilität und Wirksamkeit zu bewerten.
„Mit den steigenden Zahlen von Patientinnen und Patienten in Notaufnahmen wächst auch der Bedarf an einem modernen und intelligenten System, das auf dem neuesten Stand der Forschung ist, Prozesse verbessert und die gesundheitliche Versorgung in den Mittelpunkt stellt. Der Lübecker Campus ist genau der richtige Ort, um klinisches und technisches Wissen zu verbinden, um die Notfallversorgung hier und an anderen Kliniken zu optimieren. Wir freuen uns über die Förderung des Landes“, sagte Prof. Dr. Gabriele Gillessen-Kaesbach, Präsidentin der Universität zu Lübeck.
Dr. Sebastian Wolfrum, Leiter der Interdisziplinären Notaufnahme des UKSH, Campus Lübeck, sagte: „Der klassische Ablauf der Notfalldiagnostik und -therapie besteht aus verschiedenen Einzelschritten, deren Verzögerungen zu längeren Verweildauern von Patientinnen und Patienten führen können. APONA ist ein innovatives Analyse- und Prognosesystem, das retrospektiv Notaufnahmedaten untersucht, um relevante Algorithmen mit prognostischem Wert zu identifizieren. Diese Algorithmen werden anschließend an neueren Datensätzen getestet, um ihre Genauigkeit und Wirksamkeit zu überprüfen.“
Prof. Dr. Ralf Möller, Wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs Stochastische Relationale KI im Gesundheitswesen am DFKI und Direktor des Instituts für Informationssysteme der Universität zu Lübeck, ergänzt: „Ein bedeutender Schritt besteht darin, APONA in einem prospektiven Ansatz in Echtzeit in der Notaufnahme einzusetzen, um die Prozessunterstützung zu optimieren. Dies bedeutet, dass das System aktiv während der Behandlungsabläufe in der Notaufnahme eingesetzt wird, um bei der Entscheidungsfindung und Ressourcenkalkulation zu helfen.“
„Erste Erkenntnisse aus vorbereitenden Forschungen konnten bereits auf Konferenzen und in ersten Publikationen vorgestellt werden. Das breite Interesse spricht dafür, dass auch andere Kliniken und das Gesundheitssystem als Ganzes von den Ergebnissen, die durch APONA gewonnen werden, profitieren können“, sagte Dr. Mattis Hartwig, Geschäftsführer singularIT GmbH.
Neben der Hauptanwendungsmöglichkeit eröffnen sich weitere Anwendungsmöglichkeiten, bei denen APONA unterstützen kann:
Ermittlung von Patientinnen und Patienten, die ein stationäres Behandlungsbett benötigen, basierend auf Faktoren wie Schwere der Erkrankung und Verfügbarkeit von Ressourcen
Prognose der voraussichtlichen Verweildauer einer Patientin oder eines Patienten auf einem Behandlungsbett, um die Bettenauslastung zu optimieren
Individuelle Bestimmung der optimalen Diagnostik- und Therapieansätze, unter Berücksichtigung von Faktoren wie Krankheitsgeschichte und aktuellen Symptomen
Vorhersage von Diagnostikverfahren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Ergebnisse liefern werden, um kostspielige oder unnötige Tests zu vermeiden
Die benötigten Daten werden seitens des UKSH anonymisiert aufbereitet und mit den Projektpartnern analysiert. Auf Grundlage der bereitgestellten Daten entwickelt, trainiert und evaluiert das DFKI Vorhersage-Modelle. Diese Modelle werden dann in die von singularIT entwickelte Software eingebettet. Außerdem schafft die singularIT die Architektur für ein kontinuierliches Lernen und Nutzen der Modelle und der Software.
Pressebild
Gemeinsam für das Verbundprojekt APONA: Dr. Mattis Hartwig, Geschäftsführer singularIT GmbH, Digitalisierungsminister Dirk Schrödter, Dr. Sebastian Wolfrum, Leiter der Interdisziplinären Notaufnahme des UKSH, Campus Lübeck, Prof. Dr. Gabriele Gillessen-Kaesbach, Präsidentin der Universität zu Lübeck, und Prof. Dr. Ralf Möller, Wissenschaftlicher Direktor des Forschungsbereichs Stochastische Relationale KI im Gesundheitswesen am DFKI und Direktor des Instituts für Informationssysteme der Universität zu Lübeck (v. l.)
Foto: UKSH
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Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Interdisziplinäre Notaufnahme, Dr. Sebastian Wolfrum
Tel.: 0451 500-47000, sebastian.wolfrum@uksh.de
DFKI, Prof. Dr. Ralf Möller
ralf.moeller@dfki.de
singularIT GmbH, Dr. Mattis Hartwig
mattis.hartwig@singular-it.de
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