An der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, fällt diese Woche der Startschuss für die „ScreenFM“-Studie. Die beteiligten Forscher*innen entwickeln und evaluieren eine App, um spontane Bewegungsmuster, sogenannte Fidgety Movements (FM), von Säuglingen im Alter von drei bis fünf Monaten zu analysieren. Die App soll das Screening für Entwicklungsauffälligkeiten verbessern und flächendeckend durch Kinder- und Jugendärzt*innen möglich machen. Im „ScreenFM”-Projekt arbeiten Wissenschaftler*innen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, der Universität zu Lübeck, des Digital-Health-Unternehmens Motognosis sowie von YOUSE und Kaasa solution über einen Zeitraum von 32 Monaten zusammen. Es wird mit 1,5 Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Jährlich kommen in Deutschland rund 800.000 Kinder zur Welt. Etwa fünf Prozent sind von vorübergehenden oder dauerhaften Bewegungsstörungen betroffen. Diese Kinder zeigen oft auch Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, Einschränkungen des Hör- und Sehvermögens oder andere Entwicklungsauffälligkeiten. Besonders häufig betroffen sind Frühgeborene und Kinder, die mit Geburtskomplikationen zur Welt gekommen sind.
Auffällige Bewegungsmuster im Säuglingsalter können ein Hinweis auf neurologische Störungen sein und sollten beobachtet und behandelt werden. Um frühzeitig eine Therapie einzuleiten und somit Einschränkungen durch Bewegungsstörungen zu verringern, ist neben einer ärztlichen Untersuchung eine Bewegungsanalyse wichtig für die Diagnostik. Doch diese Untersuchung ist sehr zeitaufwendig und kann nur in spezialisierten Einrichtungen durchgeführt werden. Die Analyse der Videoaufnahmen und die Dokumentation dauern bis zu einer Stunde. Die videogestützte Untersuchungsmethode ist jedoch besonders geeignet, um die Entwicklung einer schweren Bewegungsstörung, zum Beispiel einer Zerebralparese, frühzeitig zu erkennen.
Prof. Dr. Ute Thyen, Studienleiterin ScreenFM, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck: „Die Untersuchung von Bewegungsmustern ist bei allen Säuglingen wichtig, nicht nur bei Frühgeborenen. Insbesondere bei Kindern mit Risikofaktoren während der Schwangerschaft der Mutter, bei der Geburt oder in den ersten Lebenswochen sind die Eltern und behandelnden Ärzt*innen besorgt, dass sich Auffälligkeiten in der Entwicklung zeigen. Die Untersuchung von Bewegungsmustern bei Säuglingen kann diese Ängste nehmen und Ärzt*innen dabei unterstützen, frühzeitig passende Therapiemaßnahmen zu ergreifen, aber auch unnötige Interventionen zu vermeiden.“
Im Rahmen des „ScreenFM“-Projektes entwickeln Forscher*innen eine App, um die neurologische Untersuchung von Säuglingen zu erleichtern. Dafür filmen die Forscher*innen die spontanen Bewegungen von Säuglingen im Alter von drei bis fünf Monaten und analysieren diese anschließend mithilfe von Algorithmen. Dabei kommt die Amsa-Technologie des Digital-Health-Unternehmens Motognosis zum Einsatz, die mittels 3D-Kameras eine digitale Bewegungsanalyse durchführt. Ergänzend zeichnen speziell für Säuglinge geeignete Wearables des Unternehmens Kaasa Referenzdaten auf. Im nächsten Schritt entwickeln Prof. Grzegorzek und sein Team vom Institut für Medizinische Informatik lernbasierte KI-Algorithmen, die die multimodalen Sensorsignale verarbeiten und aus ihnen die Fidgety Movements der Babys automatisch diagnostisch einschätzen. Insgesamt sollen 150 Säuglinge an der Studie teilnehmen. Parallel analysiert das Unternehmen YOUSE die Anforderungen der Kinder- und Jugendärzt*innen an die App. Auf Basis der Studienergebnisse entwickelt Motognosis die Technologie weiter und integriert sie zusammen mit YOUSE und Kaasa in eine App für das automatisierte, neurologische Screening von Säuglingen. Ziel ist es, die App als Teil der Kindervorsorgeuntersuchung im Alter von drei Monaten zu etablieren, um alle Neugeborenen in Deutschland untersuchen zu können.
Sebastian Mansow-Model, Geschäftsführer von Motognosis: „Digitale Bewegungsanalyse über Wearables oder 3D-Kameras wurde in den letzten Jahren für viele neurologische Krankheitsbilder wie Parkinson und Multiple Sklerose entwickelt. Im Rahmen von ScreenFM wollen wir gemeinsam mit unseren Partnern diese Technologie für die Untersuchung von Säuglingen nutzbar machen und Ärzt*innen die Möglichkeit geben, die neurologische Entwicklung aller Kinder frühzeitig zu beurteilen.“
Auf der Projektwebsite des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein können sich interessierte Eltern über die Studie informieren und ihren Säugling für die Teilnahme anmelden: www.screen-fm.de
Hintergrundinformationen zum Projekt
Projektzeitraum
01.05.2021 - 31.12.2023
Verbundpartner des Projekts
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Universität zu Lübeck
Motognosis GmbH
Kaasa solution GmbH
YOUSE GmbH
Studienleitung
Prof. Dr. Ute Thyen
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Prof. Dr. Marcin Grzegorzek
Institut für Medizinische Informatik der Universität zu Lübeck
Gefördert durch
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Fachprogramm Medizintechnik, Förderkennzeichen 13GW0444)
Über das Sozialpädiatrische Zentrum des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) werden Kinder und Jugendliche behandelt, die wegen einer komplexen chronischen Erkrankung oder Behinderung einer multiprofessionellen Betreuung bedürfen. Die Behandlung soll die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen in ihren Lebenswelten optimieren und verbessern. Dazu ist eine enge Kooperation mit Fachkräften aus ihren Lebenswelten, der Eingliederungs- und Jugendhilfe und außerklinisch behandelnden TherapeutInnen. Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern werden beteiligt an allen Maßnahmen, Entscheidungen und Empfehlungen. Das Team wird ärztlich geleitet und beteiligt Fachkräfte aus den Bereichen Psychologie, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie und Pädagogik an der Diagnostik und Erstellung eines Förderplans. Das SPZ des UKSH, Campus Lübeck, betreut insbesondere Früh- und Neugeborene nach, die aus der Neonatologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin entlassen werden.
Über Motognosis
Das Digital-Health-Unternehmen Motognosis mit Sitz in Berlin entwickelt die Software Amsa. Amsa ist europaweit das erste zertifizierte Medizinprodukt (Klasse I-m) für Ganzkörper-Bewegungsanalyse zu Hause. Mittels 3D-Kameras erfasst Motognosis Amsa die Bewegungsmuster von Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen wie Parkinson und Multiple Sklerose in Form von medizinisch anerkannten Messwerten. Die Patient*innen und Ärzt*innen erhalten eine übersichtliche Verlaufsanalyse, die dazu beitragen kann, die Behandlungsergebnisse und das Wohlbefinden der Patient*innen zu verbessern. Anhand der erfassten Daten können Mediziner*innen leitlinienorientiert individuelle Therapiemaßnahmen ergreifen, auch wenn die Patient*innen nicht vor Ort sind. Amsa wurde in verschiedenen Studien an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Universitätsklinikum Dresden klinisch und technisch validiert. Sebastian Mansow-Model, Karen Otte und Dr. Alexander Brandt gründeten das Unternehmen 2014 als eine Ausgliederung der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Aktuell beschäftigt Motognosis 12 Mitarbeiter*innen, darunter Expert*innen für Bewegungsanalyse, Machine Learning, Neuroimmunologie und medizinisches Fachpersonal.
Weitere Informationen unter www.motognosis.com.
Über Kaasa
Die Kaasa solution GmbH aus Düsseldorf entwickelt Software für den Bereich der Sensorik und Robotik. Die Angebote umfassen eigene Softwarelösungen, die es den Kunden ermöglichen, schneller und kosteneffektiver Sensordaten zu erfassen, diese zu annotieren und im Anschluss eigene Algorithmen oder Machine Learning Ansätze zu erstellen. Die Softwarelösungen im Bereich Robotik werden in erster Linie im europäischen und nordamerikanischen Markt im Zusammenhang mit Studien sowie kommerziellen Produkten eingesetzt.
Weitere Informationen unter www.kaasa.com.